
(Fortsetzung zu „Die Anerkennung der Abhängigkeit“)
Die Tugend-Palette ist breit;
das ist hilfreich, bist du suchend.
So galten Demut und Klugheit
oder Glaube einst als Tugend.
Auch waren mal Fleiß und Geduld
oder Mäßigung und Güte
nicht nur staubiger alter Kult,
sondern Schätze, die man hüte.
Im Grunde könnte man dichten
für jede Tugend einen Reim,
doch reicht der Platz hier mitnichten
und ein Buch ginge aus dem Leim.
Ich habe die Großzügigkeit
als Beispiel für Tugend gewählt,
weil es an ihr mangelt zurzeit,
ja weil sie uns allerorts fehlt.
Wovor diese Tugend mich stellt,
das ist, dass ich helfe in Not.
Wenn mir dieses Handeln zufällt,
dann ist die Hilfe mir Gebot.
Dabei ist mein Imperativ
nichts anderes als dies‘ Übel.
Ich suche kein zweites Motiv,
auch über Lob ich nicht grübel‘.
Nichts weiter ist Rechtfertigung
für mein moralisches Urteil
als meine Berücksichtigung
der anderen, auch kein Vorteil.
Hab‘ ich tatsächlich entfaltet
die Großzügigkeit zur Ethik,
ist mein Wirken so gestaltet,
dass es sich weiter verstetigt.
Die Tugend der Großzügigkeit,
im Alltag durch Praxis geprägt,
wird Teil meiner Persönlichkeit,
die sich mit anderen verträgt.
Ohne der Gemeinschaft ihr Wohl
und ihr immer sicheres Gleis
sind meine Ziele eher hohl.
Und damit schließt sich dann der Kreis.
Original:
„Was eine Tugend wie die der gerechten Großzügigkeit von mir verlangt, ist, dass ich in Situationen, in denen mir die Verantwortung zufällt, einer krassen und drängenden Not abzuhelfen, ich eben in dieser Not einen hinreichenden Grund sehe zu handeln und weder nach einem weiteren Grund frage noch suche.
Tatsächlich habe ich einen guten Grund zu einer Person zu werden und wie eine Person zu handeln, deren Charakter durch die Tugend der gerechten Großzügigkeit bestimmt ist. Ohne diese Tugend kann ich das für mich Gute nicht erreichen.
Doch insofern ich tatsächlich die Tugend erworben habe (…), werde ich gelernt haben zu handeln, ohne an irgendeine Rechtfertigung zu denken, die über die Bedürfnisse der meiner Fürsorge Anvertrauten hinausgeht.“

„Wie die Tugenden uns befähigen, uns selbst und andere sowie unsere Beziehung zu anderen als tatsächliche oder potentielle Mitglieder eines Netzes von Geben und Nehmen zu betrachten, wird vielleicht am prägnantesten im 9. Buch der Nikomachischen Ethik von Aristoteles diskutiert, wo er argumentiert, dass, insofern wir gut sind, wir uns zu uns selbst so verhalten, wie wir uns zu Freunden verhalten und umgekehrt.“
Das Buch:
Alasdair MacIntyre (1999): Die Anerkennung der Abhängigkeit. Über menschliche Tugenden. Rotbuch Verlag, deutsche Ausgabe 2001, S. 189, 190