Das Wirken in den Dingen

Bild: Laozi reitet auf einem Ochsen. Gemälde auf Papier von Zhang Lu (1464–1538), Ausschnitt. Bildquelle: National Palace Museum in Taipei, Taiwan, Wikimedia Commons (public domain)
„Das Dao, das man ausspricht,
ist das wahre Dao nicht“,
das dachte Meister Lao *
und schrieb das seiner Frao.
Sie schrieb darauf zurück,
dass sie das sehr entzückt.
Doch wo sei drin der Sinn?
Sie kratzte sich am Kinn.

Auch für ‘nen Missionar **
dieses Dao seltsam war.
Der war natürlich Christ
und dachte: „So ein Mist!“

Vielleicht gelingt der Reim,
den er dann schrieb daheim,
wenn Dao steht für „Sinn“.
Das haut ja vielleicht hin.

Doch klingt das etwas schräg,
drum wählte man dann „Weg“.
Doch welcher Weg wohin?
Und wo ist sein Beginn?

Dao als Weg zum Gehen?
Gar als Rad zum Drehen?
Ist’s göttliches Walten?
Oder Mystik der Alten?

Meister Zhuang hinterließ mehr,
und das freut uns doch sehr.
Statt des Laos Orakel
ist sein Text passabel.

Wir lesen von dem Koch,
auch von anderen noch,
und finden im Handwerk
unser Dao als Beiwerk:

Ohne viel Mühe und Kraft
es Herr Ding (der Koch) schafft,
schnell, doch ohne Eilen,
ein Rind zu zerteilen.

Nach Praxis von Jahren,
die es schließlich waren,
wurde sein Können fein.
Dann geschieht’s von allein.

Es regnet und es denkt,
das tut es nicht gelenkt.
Kein Subjekt beteuert,
dass es Dinge steuert.

Man kann es nicht zwingen,
das Wirken in Dingen.
Man kann Dao nicht treiben,
doch bildhaft beschreiben.


Anmerkungen und Literatur:

Ich habe frei gedichtet nach Laozi, erster Vers; nach Zhuangzi, Kapitel 3.2; und nach J. F. Billeter, 2015.

* Laozi (Meister Lao), legendärer chinesischer Philosoph, der wahrscheinlich nie existiert hat (und wenn, dann im 6. Jahrhundert v. Chr.). Der Legende nach reitet er, fliehend vor Chaos im Reich, auf einem Ochsen nach Westen, hinterlässt unterwegs eine Niederschrift des Daodejing (Tao Te King) und verschwindet aus der Geschichte.

** Richard Wilhelm, deutscher Missionar und Sinologe (1873-1930), übersetzte und kommentierte klassische chinesische Texte, darunter das Daodejing (Tao Te King, Das Buch vom Sinn und Leben) und Teile des Zhuangzi.

Mir liegt für meine Beschäftigung mit Zhuangzi u.a. die Übersetzung von Viktor Kalinke vor, die 2019 als hübsche Hardcover-Ausgabe bei Reclam erschienen ist.

Bei der Interpretation des Zhuangzi in diesem Gedicht folge ich Jean François Billeter: Das Wirken in den Dingen. Vier Vorlesungen über das Zhuangzi. Verlag Matthes & Seitz Berlin, 2015

  

Außerdem:

Bertolt Brecht dichtete über Laozi.

„Als er siebzig war und war gebrechlich
Drängte es den Lehrer doch nach Ruh

Denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich

Und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu.

Und er gürtete den Schuh.“

(Auszug aus: Bertolt Brecht: Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration. Aus der Sammlung Svendborger Gedichte, 1939)