
Die Ethik unserer Tage
prägen Gefühl und Empfindung.
Die heutige Ausgangslage
ist moralische Erblindung.
Entfesselt von allen Zwängen
als der Aufklärung Verhängnis
irrt der Mensch in bunten Gängen
und ist erneut in Bedrängnis.
Gesellschaftliche Probleme
in einem Konsens zu lösen,
das verhindern die Extreme:
hier die Guten - da die Bösen.
So stehen gerne im Wettstreit
der hehren Freiheit Verfechter
mit den Kämpfern für mehr Gleichheit;
auch die Sicherheit hat Wächter.
Bis hierhin zu diesen Werten
wird erörtert und gerungen;
hier stoppen dann die Gelehrten,
sie stoppen ja notgedrungen.
Welcher der Werte schwerer wiegt,
ob schließlich die Freiheit gewinnt
oder ob die Gleichheit obsiegt,
das bestimmt, wo Mehrheit gerinnt.
Doch die Mehrheit wird beeinflusst
durch blasenbildende Netze.
Gefühle fördern sie bewusst
und sie fördern auch die Hetze.
Der frei entfesselte Eine
als Individuum taumelt
und er sucht sich eine Leine,
an der die Seele schön baumelt.
Die findet er in Hedone,
gerne auch im Egoismus,
gar als verkabelte Drone
in einem Transhumanismus.
Das ist nun die Ausgangslage,
das ist der Gegenwart „Ethos“.
Aber wer stellt noch die Frage
nach Tugend oder nach Telos?
(Fortsetzung: „Die Anerkennung der Abhängigkeit“)
Hintergrund:
Das Gedicht basiert auf Überlegungen des am 21. Mai 2025 verstorbenen Philosophen Alasdair MacIntyre (1929-2025), der eine moralische Krise der Gegenwart konstatiert und für eine Rückbesinnung auf die Tugendethik plädiert hat. Ich habe den Buchtitel übernommen und seine Analyse aufgegriffen, dann aber frei gedichtet.
Zum Buch:
Alasdair MacIntyre (1981): Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. Campus Verlag, deutsche Neuausgabe 2006