
(Fortsetzung zu „Der Verlust der Tugend“)
Kein Mensch lebt als eine Insel,
nur einzelne sind Eremit.
Das spürt man, wenn der Mensch winselt
als ein Baby mit Appetit.
Während der Jahre der Kindheit
und später als schrulliger Greis,
doch auch im Falle von Krankheit
ist er abhängig - was er weiß.
Ohne Eltern, ohne Kinder,
ohne Ärzte und Personal,
Handwerker oder Erfinder,
ohne Bauern ja allemal…
…kann ein Mensch nicht überleben.
Jedenfalls muss man sich fragen,
ob man Stoffe könne weben
oder gar sich selber tragen.
Aristoteles gab uns ein,
als er seine Texte entwarf,
es müsse Tier oder Gott sein,
wer der anderen nicht bedarf. *
Ein viel späterer großer Geist
beschreibt und erklärt uns das breit.
Er versteht, was er auch beweist,
den Menschen in Abhängigkeit.
Damit der Mensch wächst zum Subjekt,
das nach Eigenständigkeit strebt
und praktisches Denken entdeckt,
braucht er Gemeinschaft, die ihn hebt.
Eine solche, das ist der Kern,
setzt eben Tugenden voraus,
demnach, ich betone es gern,
die Umsicht über’s Ich hinaus.
Das Leben wäre langweilig
ohne Freunde in der Nähe;
außerdem ist’s arbeitsteilig,
was man auf Märkten ja sehe.
Gemeinschaft ist ein dichtes Netz
aus Nehmen und auch aus Geben.
Wir sollten nach altem Gesetz
gemäß der Tugenden leben.
(Fortsetzung: „Die Tugend der Großzügigkeit“)
Hintergrund:
Das Gedicht basiert auf Überlegungen des am 21. Mai 2025 verstorbenen Philosophen Alasdair MacIntyre (1929-2025). In seinem zweiten auf Deutsch erschienenen Buch skizziert er eine Tugendethik, aufbauend auf der Erkenntnis, das wir uns in einer existenziellen wechselseitigen Abhängigkeit voneinander befinden. Ich habe den Buchtitel übernommen und MacIntyres Gedanken frei gedichtet.
Das Buch:
Alasdair MacIntyre (1999): Die Anerkennung der Abhängigkeit. Über menschliche Tugenden. Rotbuch Verlag, deutsche Ausgabe 2001 (leider nur noch gebraucht bzw. im Antiquariat erhältlich)
* Aristoteles:
„Wer aber nicht in Gemeinschaft leben kann, oder ihrer, weil er sich selbst genug ist, gar nicht bedarf, ist kein Glied des Staates und demnach entweder ein Tier oder ein Gott.“
Aristoteles (384 – 322 v. Chr.), griechischer Philosoph, Quelle: Aristoteles, Politik. 1253a (I, 2.) Übersetzt von Eugen Rolfes (1912)