Wenn der Zeitgeist dichtet

Bild: Der Zeitgeist ist die intellektuelle Mode oder vorherrschende Denkschule, die die Kultur einer bestimmten Epoche kennzeichnet und prägt. Bildquelle: Christopher Dombres (2017), Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)
Ein Gedichtband kam ins Haus,
der ward bestellt vor Tagen.
Das Buch beginnt als Schmaus
und hinterlässt doch Fragen.
Vereinzelt ward geschrieben 
im Fließtext ohne Enter.
Man mag so etwas lieben
als Prosa, nur dezenter.

Manche Lyrik ist wie Teer:
äußerst klebrig und sehr zäh,
zudem dunkel und auch schwer,
bringt statt Lächeln nur ein „Häh?“

Tausend Seiten voll gedichtet;
bis zum Ende tat ich suchen,
wo die Prosa sich mal lichtet;
ich musste dann auch fluchen.

Warum, wieso zum Henker
gibt’s da drinnen keinen Reim?
Was treibt nur diese Denker,
treibt die Verse aus dem Leim?

Ist doch mein Reiz am Dichten,
Gedanken, Sinn und Worte
nach Schema auszurichten;
ich liebe diese Sorte.

Die Erklärung, die ich las,
war kindisches Gewese:
Reime und der Verse Maß
seien peinliche Prothese.

Die Dichter des Jahrhunderts,
die Großes auf sich halten,
verweigern (ja wen wundert’s?)
die Regeln, die sonst walten.

Man schaffe sich durch dieses
mehr Freiheit für Gedanken.
Man wolle nichts Präzises,
vor allem keine Schranken.

Und zudem sei Amateur,
wer die Silben artig zählt,
wer gar dichtet nach Gehör,
feine Reime dazu wählt.

Doch ist‘s Arbeit für den Geist,
beim Dichten auch zu reimen.
Wer das meidet, der beweist
nur Trägheit im Geheimen.

Nun, ich bin ja Philosoph
und entnehm‘ der Disziplin
zwei Begriffe für die Stroph‘:
Nihilismus als Doktrin.